Warum Erfahrung überschätzt wird

Erfahrung formt unser Denken (Symbolbild)

„Erfahrung bleibt des Lebens Meisterin“, lautet ein Zitat, das Johann Wolfgang von Goethe zugeschrieben wird. Da ist einiges dran.

Erfahrung ist das, was uns das ganze Leben begleitet, sie nimmt stetig zu und formt uns. Je mehr Erfahrung wir haben, desto mehr wissen wir, so zumindest ein weit verbreiteter Glaube. Wie wichtig Erfahrung für uns ist, wird bei einem Blick in unsere eigene Evolutionsbiologie klar.

Der Mensch ist das einzige Säugetier, dessen Gehirn bei der Geburt noch weitgehend unterentwickelt ist. Erst durch jahrelange Erfahrungen, die wir ab dem frühesten Säuglingsalter machen, werden wir zu denjenigen, die wir sind. Ja, sogar die gesamte Bildung unseres „Ich“ ­­­— unseres Selbstgefühls — findet über diesen Mechanismus statt. Unser Welt- und Menschenbild wird geformt durch das, was von außen auf uns einwirkt.

Das macht uns äußerst anpassungsfähig. Eine unserer wichtigsten Fähigkeiten, die uns als Spezies von anderen unterscheidet, ist unsere Kooperationsfähigkeit. Unser kooperatives Sozialverhalten macht uns als Spezies ungemein erfolgreich. Allerdings hat dies auch eine Schattenseite, denn wenn wir stark von außen geprägt werden können, braucht es auch eine Art inneren Kompass, der uns „falsch“ und „richtig“ unterscheiden lässt.

Erfahrung einordnen

Entscheidend ist, wie wir unsere Erfahrungen einordnen und welche Grundannahmen wir dazu verwenden. Im Kindesalter übernehmen die Eltern einen Großteil dieser Arbeit. Später kommen weitere Einflüsse hinzu, bis wir schließlich auch lernen, uns eine eigene Meinung zu bilden.

Mehr und mehr entsteht ein sich selbst verstärkendes Welt- und Menschenbild aus Erfahrungen, die wir auf Basis unserer vorhandenen Annahmen einordnen und die dann wieder neue Annahmen bilden bzw. die bestehenden bestätigen. Letzteres ist sozusagen der Normalfall, denn wir neigen dazu, einmal gewonnene Annahmen und die damit verbundenen Erwartungen bestätigen zu wollen. Das nennt man in der Kognitiven Psychologie auch den Bestätigungsfehler (Confirmation Bias).

Hinzu kommt ein weiterer, sozialpsychologischer Effekt, der unsere Kognitionsfähigkeiten in Gruppen beeinflusst, die Gruppendynamik.

Gruppendynamik

Der Begriff Gruppendynamik geht auf den Sozialpsychologen Kurt Lewin zurück, der ihn 1939 zum ersten Mal in einem Fachartikel verwendete und fortan prägte. Ein Effekt von Gruppendynamik ist ein gewisser Konformitätsdruck in sozialen Gruppen. Salopp gesagt, folgen wir in den Bewertungen unserer Erfahrung tendenziell den Meinungen der Gruppen, denen wir angehören. Was wir als „wahr“ ansehen, erfahren wir also zu einem gewichtigen Teil durch Feedback aus unserer vertrauten Umwelt, neudeutsch „Bubble“. Wenn Du so willst, sind Deine Eltern also Deine erste Bubble.

In einer komplexen Welt wie heute, in der sich soziale Systeme immer weiter ausdifferenzieren, ist das nicht unproblematisch. Unser innerer Kompass gerät ins Flattern und es fällt schwer, „falsch“ und „richtig“ zu erkennen. Und wir wissen längst, dass Gruppenmeinungen sich auch gezielt manipulieren lassen, was unsere heutige Social Media-Landschaft immer wieder eindrucksvoll beweist.

Ob manipuliert oder nicht, so wird schnell aus Erfahrung ein, „das ist halt so — das kann man ja sehen“. Einen anekdotischen Artikel dazu hatte ich schon vor einer Zeit einmal geschrieben, darin thematisiere ich ein weiteres Problem, den sogenannten Attributionsfehler.

Attributionsfehler

Die Attributionstheorie geht auf den österreichischen Psychologen Fritz Heider zurück. Die Ansätze dieser Theorie beschreiben, wie sich Menschen ihre gewonnenen Eindrücke zu nutze machen, um vermeintlich kausale Erklärungen für Verhaltensweisen von Menschen zu finden.

Die Neigung zum Attributionsfehler begleitet uns ständig. Der Effekt ist, dass wir beobachtetes Verhalten eher den persönlichen Charaktereigenschaften der handelnden Personen zuschreiben, und den Kontext vernachlässigen. Dass führt zu Fehlinterpretationen und schlussendlich auch zu falschen Annahmen darüber, wie Menschen sind.

Oben bereits erwähnter Kurt Lewin hat in seinen Arbeiten zur Gruppendynamik und der Feldtheorie das persönliche Verhalten als eine Funktion von Person und seiner Umwelt dargestellt. Wir passen unser Verhalten an den jeweiligen Kontext an, in dem wir uns befinden. Das ist ein wichtiger Teil unseres Sozialverhaltens, den Du wunderbar beobachten kannst, wenn Du einmal das Verhalten von Personen, sagen wir mal, bei einer ausgelassenen Party mit dem auf einer Beerdigung vergleichst.

Welchen Einfluss die Verhältnisse auf unser Verhalten haben, ist sehr unterschätzt. Aber der Einfluss ist unter Umständen enorm. Der Wissenschaftler William Edwards Deming schätzte beispielsweise im Kontext Qualitätsmanagement, dass mehr als 90% aller Qualitätsprobleme auf die Verhältnisse zurück gehen, anstatt auf die Menschen, die am Prozess beteiligt sind [1].

Challenge your assumptions

Gruppendynamik sorgt dafür, dass wir Meinungen häufig höher bewerten als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse. Zusammen mit unserer Neigung zum Attributionsfehler entsteht ein sich selbst verstärkendes, verzerrtes Welt- und Menschenbild. Unsere Beobachtungen und wie wir sie einordnen bestärken unsere Sichtweise.

Der renommierte Soziologe, Sozialpsychologe und Publizist Harald Welzer schreibt in einem seiner Bücher [2]:

Unser heutiges Selbstbild geht auf ein kulturell geprägtes Selbstmissverständnis zurück: Natürlich benötigt eine arbeitsteilige Gesellschaft, die ihre Mitglieder zu hoch leistungsfähigen Spezialistinnen und Spezialisten macht, Menschen, die von sich ein egozentrisches, kompetitives, individualistisches Selbstbild haben.

Er leitet dies ein mit:

Menschen sind immer schon sozial, bevor sie auch zu Individuen werden. Menschliche Überlebensgemeinschaften basieren nicht auf Individualismus und Konkurrenz, sondern auf Kooperation.

Die gleiche Analyse stellt der niederländische Historiker und Autor Rudger Bregman an in seinem Buch „Im Grunde gut“ an [3]. Ein äußerst lesenswertes Buch. Wenn also heute gefordert wird, wir müssten neu oder anders denken, dann greift das zu kurz. Unser Denken ist nicht das Problem, sondern unsere Annahmen, die bestimmen, wo wir mit unserem Denken ankommen.

Ein plastisches Beispiel: Stell Dir vor und Du bist mit einem alten mechanischen Kompass draußen unterwegs und weißt, Du musst nach Westen gehen. Dein Kompass zeigt nach Norden und so weißt Du, wie Du abbiegen musst, um nach Westen zu gelangen. Trotzdem verläufst Du Dich. Was ist passiert? Um der Sache auf den Grund zu gehen, gehst Du noch einmal an die Stelle, wo Du auf Deinen Kompass geschaut hast und stellst fest, er hatte einen Hänger, und zeigte nicht wirklich nach Norden. Du bist also von einer Falschen Annahme ausgegangen. Nun gehst Du den Weg noch einmal und kannst mit der neuen Information richtig abbiegen. Selbe Denkweise, anderes Ziel.

Ausweg Wissenschaft?

In der Psychotherapie nutzt man dies beispielsweise in der Arbeit traumatisierten Patienten. Deren Erfahrungen sind nicht mehr zu löschen aber an ihrer Einordnung über die Bearbeitung von Grundannahmen der Klienten finden sich Lösungswege.

Aber auch ohne Traumata funktioniert das. Wir können uns bewusst immer wieder der Prüfung unserer Annahmen zuwenden. Es erfordert vielleicht etwas Übung aber wissenschaftliche Erkenntnisse sind heut besser verfügbar denn je. Zwar finden sich auch in der Wissenschaft Beispiele gemeinschaftlicher Irrtümer, aber meist lasst sich dies auf unsaubere Arbeit zurückführen.

Es liegt ja geradezu im Kern wissenschaftlichen Arbeitens, sich immer wieder zu korrigieren und beim Auftreten neuer Erkenntnisse seine Hypothesen zu korrigieren. Genau das ist auch der Ausweg. Natürlich gilt es genau hin zu schauen. Auch in der wissenschaftlichen Arbeit ist man vor gruppendynamischen Effekten nicht gefeit. Wissenschaftliche Arbeit von Pseudo-Wissenschaften unterscheiden zu können und zu wollen wird daher eine immer wichtigere Fähigkeit.

Erfahrung ist etwas Gutes, allerdings sollten wir sie immer wieder auch mit wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnissen abgleichen und gegebenenfalls lieb gewonnene Annahmen über Bord werfen. Das ist etwas, was im Alltag zu selten geschieht. Täten wir das konsequenter, würden uns wahrscheinlich einige unangenehme gesellschaftliche Entwicklungen erspart bleiben.

Warum ist das wichtig?

Erst wenn wir verstanden haben, wie sich unsere Annahmen bilden, und wie wir darauf Einfluss nehmen können, können wir bewusst an unserem Welt- und Menschenbild arbeiten. Dies eröffnet uns Lösungswege in der Gestaltung aktueller und zukünftiger Organisations- und Gesellschaftssysteme, was angesichts des erodierenden sozialen Zusammenhalts, größer werdender wirtschaftlicher Probleme, und den Herausforderungen, die der Klimawandel an uns stellt, bitter nötig ist.

Wenn also das nächste Mal jemand – oder Du selbst – so etwas sagt wie, „das weiß ich aus Erfahrung“, dann sei wachsam. Sagt das wirklich die Erfahrung oder versuchst Du nur, gerade Deine ohnehin schon existierenden Erfahrungen zu bestätigen? Ist das eine Meinung, oder gibt es wissenschaftlich erarbeitete Evidenz, die das unterstützt?

Und weißt Du was, das kann zu Unterhaltungen führen, die unglaublich viel Spaß machen. Denn Recht haben ist langweilig, aber Erkenntnisgewinn bringt Spaß. Probier’s aus!

Referenzen

  1. The leader’s handbook: making things happen, getting things done“, Scholtes P.R., McGraw-Hill 1998.
  2. „Selbst denken – eine Anleitung zu Widerstand“, Harald Welzer, S. Fischer Verlage 2014, ISBN 978-3-596-19573-2.
  3. „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“, Rutger Bregman, Verlag Rowohlt 2019, ISBN 978-3-498-00200-8.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.