Kompliziert vs. Komplex – eine Unterscheidung macht den Unterschied

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Menschliche Hand berührt Roboterhand. Credits cottonbro Studios.

Ohne viel nachzudenken verwenden wir im allgemeinen Sprachgebrauch die Begriffe Kompliziert und Komplex häufig synonym. Oder das eine soll die Steigerung des anderen sein. Einen wirklichen Unterschied machen wir uns selten bewusst. Internet-Recherchen führen schnell zu vielen verschiedenen Definitionen, die eher verwirren als aufklären. Definitionen sind ohnehin langweilig und wenig hilfreich. Stattdessen will ich eine Unterscheidung anbieten, denn Unterscheidungen grenzen ab und schaffen besseres Verständnis.

„Ich kann nur in Unterschieden denken“, hat Niklas Luhmann einmal gesagt. Ein gemeinsames Verständnis darüber zu haben, was etwas ist und was etwas nicht ist, verbessert unsere Dialoge. Sprache ist letztlich immer unzulänglich, um unsere Gedanken über die Welt vollständig zu beschreiben. Deshalb müssen wir in unserer Kommunikation immer erst eine Art gemeinsame Sprache aushandeln. Je besser unsere Sprache auf einander abgestimmt ist, und je präziser wir sie einsetzen können, desto leichter und produktiver wird unsere Kommunikation. Ohne Deutungshoheit beanspruchen zu wollen hoffe ich, etwas brauchbares liefern zu können und Erkenntnis zu fördern.

Kompliziert

Die Basis der Unterscheidung, die ich beschreiben will, ist die systemtheoretische Betrachtung der Begriffe Kompliziert und Komplex. Demnach kann etwas kompliziertes zwar sehr umfangreich und vielschichtig sein, aber es ist stets vollständig berechenbar und vorhersagbar. Zumindest prinzipiell. Kompliziert ist zum Beispiel alles technische. Technische Geräte sind stets vollständig analysierbar und arbeiten deterministisch, also vorhersagbar. Wir können sie in ihre Einzelteile zerlegen und mit Wissen so bedienen und beherrschen, dass wir treffsichere Vorhersagen über ihre Funktion machen können.

Komponenten eines komplizierten, technischen Geräts. Credits Shane Aldendorff.
Komponenten eines komplizierten Geräts – Foto: Shane Aldendorff

Kompliziertes kann uns also nicht überraschen. Zumindest nicht, wenn wir genug über das komplizierte „Ding“ wissen. Das Wissen dazu kann prinzipiell immer erworben werden. Zum Beispiel, indem man die Bedienungsanleitung liest. Kompliziertes überrascht nur Unwissende. Es gibt stets klar identifizierbare Ursache-Wirkungsbeziehungen. Ist das Wissen vorhanden, wird kompliziertes einfach, zumindest relativ gesehen. Kompliziertheit kann also auch als das Maß an Unwissenheit über eine Sache oder eine Problemstellung gesehen werden.

Komplizierte Problemstellungen, wie zum Beispiel ein Modellflugzeug zusammenzubauen, lassen sich mit Regeln und Prozessen – man kann auch sagen „algorithmisch“ – lösen. Deshalb sind Computersysteme hervorragend geeignet, komplizierte Problemstellungen zu lösen. Auch bei sehr komplizierten Zusammenhängen kann man – solange man nur genug Wissen hat – das Problem anhand von definierten Arbeitsanweisungen erfolgreich bearbeiten. Das funktioniert reproduzierbar. Man kann daher auch das Wissen zur Problemlösung gut dokumentieren und anderen dieses Wissen zugänglich machen. Denken Sie zum Beispiel an den Aufbau des neuen Lieblings-Regals, an die Bedienung des Entertainment-Systems im Auto oder an Ihr Handy. Die Bedienungsanleitung stattet Sie mit dem nötigen Wissen aus, das „Problem“ zu lösen.

Ein interessantes Beispiel ist das Problem „Straßenverkehr“. Entgegen der landläufigen Meinung ist es ein kompliziertes Problem. Es basiert auf klaren Regeln und ist prinzipiell vorhersagbar. Nur durch den Umstand, dass Menschen als Verkehrsteilnehmer aktiv im System mitwirken, wird es überraschungsbehaftet (lassen wir einmal Dinge wie Wetter oder Wildwechsel außen vor). Die Berechenbarkeit schwindet. Deshalb tun sich auch KI-basierte Fahrerassistenz-Systeme und selbstfahrende Autos nach wie vor schwer, auch wenn diesbezüglich die Fortschritte unbestritten sind. Würde man nur noch selbstfahrende Autos einbringen und keine sonstigen Verkehrsteilnehmende haben, wäre es ein rein algorithmisch lösbares Problem. Es gäbe Unfälle höchstens nur noch dann, wenn ein technischer Defekt eintritt.

Komplex

Komplexes ist, wie es oben schon anklang, überraschungsbehaftet. Komplexes muss dazu nicht einmal sehr umfangreich sein. Komplexes ist nicht vollständig berechen- oder vorhersagbar. Die menschliche Psyche, Menschen oder Gruppen von Menschen – also Soziale Systeme – sind zum Beispiel komplexe Systeme. Unternehmen, Ihre Familie und Ihr Freundeskreis genauso wie Ihr Sportverein oder das Kaffeekränzchen. Immer wenn Menschen miteinander interagieren, entstehen komplexe soziale Systeme. Aber auch lebende Organismen sind komplexe Systeme. Als Faustregel lässt sich sagen, immer wenn Lebewesen involviert sind, wird es komplex.

Komplexes Verhalten von Fußgängern in der Stadt. Credits Mike Chai
Komplexes Verhalten von Fußgängern in der Stadt – Foto Mike Chai

Im Gegensatz zu Kompliziertem entzieht sich Komplexes der vollständigen Analysierbarkeit. Komplexes kann nicht mehr einfach durch die Zerlegung in seine Einzelteile vollständig beschrieben werden. Selbst wenn wir das komplexe System gut kennen und viel Wissen darüber haben, kann es uns überraschen. Es lassen sich keine gesicherten Vorhersagen über dessen Verhalten treffen. Es gibt im komplexen keine klaren Ursache-Wirkungsbeziehungen mehr.

Komplexes lässt sich daher nicht mehr alleine mit Wissen beherrschen, denn es kann kein vollständiges Wissen geben. Zwar sind in komplexen Systemen einige Dinge erwartbarer als andere Dinge, aber es besteht keine zuverlässige Kausalität, im Sinne von „wenn dies dann das“. Eine Vorhersagbarkeit ist bei komplexen Systeme also nur mit Wahrscheinlichkeit möglich. Daher lassen sich komplexe Problemstellungen auch nicht mehr zuverlässig mit Rezepten oder Prozessen – also algorithmisch – lösen. Es gibt keine Bedienungsanleitung.

Komplexität braucht Könnerschaft, Übung, Erfahrung und Umsicht, anstatt Rezepte. Im Komplexen wird der Unterschied zwischen Wissen und Können sehr deutlich. Vergleichen Sie es mit einer beliebigen Fähigkeit, die Sie erlernen wollen: Eine neue Sprache, ein Handwerk, ein Musikinstrument spielen, einen Sport ausüben. Beispiel Sprache: Sie können das Wörterbuch und die Grammatik auswendig lernen, aber sobald Sie sich in dem fremden Land in der Sprache zu bewegen versuchen, werden Sie bemerken, dass Ihnen jegliche Übung fehlt. Beispiel Sport: Schauen Sie sich alle verfügbaren Videos über Surfen an. Lesen Sie alle Bücher, die es zu diesem Sport gibt. Sie werden trotzdem nicht die Masters gewinnen können, ohne viele Stunden der Übung auf dem Surfbrett im Meer verbracht zu haben.

Komplexitätsreduktion

Zwar spricht Luhmann in Bezug auf Komplexität auch von Komplexitätsreduktion, aber es geht dabei um Erwartbarkeit. Interpretiert man Komplexität als die Menge der Zustände und Ereignisse, die in einem System erlebt werden können, dann kann es im Hinblick auf die Erwartbarkeit von bestimmten Vorkommnissen Abstufungen geben. Zum Beispiel ist es kaum erwartbar, dass ein Unternehmen aus der Textilbranche plötzlich beginnt, Schusswaffen herzustellen. Ausgeschlossen ist es indes nicht. Man könnte sagen, die unternehmerische Ausrichtung stellt eine Komplexitätsreduktion dar. Es ist unter normalen Umständen nicht erwartbar, dass das Unternehmen plötzlich die Ausrichtung ändert.

Die Größe eines komplexen Systems ist zweitrangig. Auch ein soziales System zwischen zwei Menschen ist komplex. Zwar kann man sagen, dass in einem solchen kleinen sozialen Systemen tendenziell weniger Ereignisse und Zustände erwartbar sind, aber trotzdem verliert es nicht die wesentlichen Eigenschaften eines komplexen Systems. Komplexität lässt sich also nicht „wegreduzieren“. Komplexe Systeme entziehen sich auch der vollständigen Steuerbarkeit, aber durch Orientierung werden einige Zustände mehr, andere weniger erwartbar.

Gleichzeitig ist Komplexität nicht die Steigerung von Kompliziertheit. Auch durch das Zusammenfügen vieler komplizierter Systeme entsteht nichts komplexes. Es mag unüberschaubarer und für Laien unverständlicher, aber das liegt dann nur am mangelnden Wissen der Betrachter*innen. Das Wissen dazu ist prinzipiell vorhanden. Die aktuellen generativen KI-Systeme mit ihren Large Language Models (LLM), sind ein treffendes Beispiel. Es handelt sich um sogenannte schwache KI. Es sind sehr komplizierte Systeme.

Diese Systeme arbeiten aber dennoch deterministisch – also prinzipiell vorhersagbar – wir haben nur in der Regel weder Kenntnis über alle Eingangsdaten, noch über alle Trainingsdaten, noch über den inneren Aufbau. Nicht-Informatiker haben zudem kaum Kenntnis, wie die Machine Learning Algorithmen in solchen Systeme arbeiten. Wir sind unwissende und bekommen daher schnell den Eindruck, dass da etwas unerklärbares passiert. Dennoch sind alle derzeit existenten KI-Systeme „nur“ kompliziert. Ich lege Ihnen zur Vertiefung meinen Artikel „Künstliche Intelligenz – eine Orientierungshilfe“ ans Herz.

Komplexität in der Informatik

Wo wir gerade beim Thema sind: Sprechen Informatiker nicht des öfteren von komplexen Algorithmen? Ja – und das Thema Deutungshoheit hatte ich ja schon angesprochen. Als promovierter Informatiker­ möchte ich deshalb nicht unerwähnt lassen, dass der Begriff der Komplexität, wie er in der theoretischen Informatik verwendet wird, etwas vollkommen anderes Bedeutet. Glauben Sie mir, Informatiker sind sich der Tatsache sehr bewusst, dass alle Algorithmen in der Informatik deterministisch arbeiten.

So wird der begriff nämlich in der Komplexitätstheorie in der Informatik auf die Berechnung des Ressourcenverbrauchs algorithmisch behandelbarer Probleme eingegrenzt. Per Definition bewegt man sich hier also in der Domäne des Komplizierten. Systemtheoretiker mögen die Verwendung dieses Begriffs in der Form für falsch halten. Das kann man durchaus diskutieren aber es kommt eben auch auf den Kontext an. Ich wollte dies hier erwähnen, da mir oft entgegengebracht wird, dass Computeralgorithmen ja komplex seien. Das ist natürlich nicht der Fall. Der oben genannte Umstand mag da bei einigen für Verwirrung sorgen.

Wozu das alles?

Heutige Unternehmen in globalisierten, komplexen Märkten stehen oftmals unter Druck. Komplexität bedeutet hohe Dynamik und Überraschung. Viele Unternehmen sind darauf aber wenig vorbereitet. Sie reagieren mit den ihnen seit Jahrzehnten bekannten Mitteln, die aber immer weniger funktionieren. Komplexität bedeutet auch Lebendigkeit und Agilität. Es gilt also der von außen einwirkenden Komplexität auch innere Komplexität entgegenzusetzen. Trotzdem dürfen aber keine Anarchie oder Laisser-Faire im unternehmen Einzug halten. Kompliziertes und komplexes kommen in variierenden Anteilen stets gemeinsam daher. Zwischen komplizierten und komplexen Problemanteilen unterscheiden zu können, versetzt Sie in die Lage, gute Antworten und Lösungen zu einigen Wichtigen Fragen zu finden.

Zum Beispiel stellt sich im Lichte von Digitalisierung und dem steigenden Einsatz von KI-Systemen stellt sich die Frage, wo Sie auf KI und Automatisierung setzen sollten und wo vielleicht nicht? Wo braucht es menschliches Urteilsvermögen, Empathie und Intuition, anstatt des sturen Abarbeitens eines Prozesses? Was können wir durch Digitalisierung effizienter gestalten und wo brauchen wir mehr menschliche Interaktion und Reflexion? Und umfassender gedacht: Wie müssen wir das Unternehmen strukturieren, damit Mitarbeitende Ideen umsetzen können, Innovationen vorantreiben und flexibel auf Kundenbedürfnisse reagieren können?

Kompliziertes kann gut algorithmisch gelöst werden. Die Frage „wie geht das?“ lässt sich einmal beantworten und dann durch wen oder was auch immer wiederholt gut lösen. Bei Komplexem kann es noch kein vollständiges Wissen zur Problemlösung geben. Ideen und Könnerschaft bringen Sie hier weiter und anstatt „wie geht das?“, sollten Sie fragen, „wer könnte das gut?“.

Indem Sie komplex und kompliziert unterscheiden lernen, bekommen Sie ein gutes Denkwerkzeug an die Hand, um bessere Entscheidungen für Problemlösungen treffen. Es ermöglicht Ihnen, Software – insbesondere KI – im Zusammenspiel mit Ihren Mitarbeitenden effektiver einzusetzen. Ihre Kunden werden es Ihnen danken. Sie können sich über besseres Hiring die benötigte Könnerschaft ins Unternehmen holen und Ihre Mitarbeitenden besser für die Probleme von Heute ausbilden. Dies sind nur einige wichtige Aspekte. Es gibt noch mehr. Sprechen Sie mich dazu gerne an.

Referenzen und weitere Ressourcen

  1. Dr. Gerhard Wohland im Interview über den Unterschied zwischen Kompliziert und Komplex, YouTube Video vom 16.04.2020.
  2. TV-Beitrag „Frag den Lesch – Komplex oder kompliziert – was macht den Unterschied?“, von Prof. Harald Lesch im ZDF vom 12.06.2023.
  3. „Komplexithoden – Neuauflage 2025“, Niels Pfläging & Silke Hermann. 7., überarbeitete und erweiterte Neuauflage. Redline Verlag, 2025. 
  4. „Organisation für Komplexität – Neuauflage 2024“, Niels Pfläging. Redline Verlag, 2024. 7. aktualisierte und erweiterte Neuauflage.