Agile … Superfood für Unternehmen?

Ich lese in letzter Zeit immer häufiger „Agil(e) ist tot“ oder so etwas in der Art. Gleichzeitig nehme ich natürlich auch den weltweiten Hype rund um „Agile“ wahr.  Wer heute nichts mit den Stichworten „Agile“ oder „Scrum“ anfangen kann, ist eigentlich irgendwie out. Und überhaupt werden die Begriffe Scrum und Agil gerne vollkommen inflationär und sogar synonym verwendet: „Wir führen bei uns jetzt auch Agile ein …“ oder so ähnlich klingt das dann. In Stellenanzeigen reicht es nicht mehr, einen Tester, Software-Entwickler oder Projektleiter zu suchen. Es muss schon der „Agile Tester“, der „Agile Software-Entwickler“ oder der „Agile Projektleiter“ sein. Das sind sichere Indizien für einen ungesunden Hype.

Nicht nur ich bin der Meinung, dass der Hype gerade seinen Zenit findet und möglicherweise überschritten hat. Das Thema killt sich selbst. Solche reinigenden Kräfte haben auch immer etwas Gutes aber ich hadere noch mit der vertanen Chance. Deshalb bin ich für eine differenziertere Sicht und sage es einmal sinngemäß so, wie Dave Thomas es 2005 schon einmal sagte: „Agile“ ist tot, wir brauchen mehr echte Agilität!

So sehr wie ich auch als Berater vom Hype um „Agile“ profitiert habe, so sehr kritisiere ich heute, was unsere Zunft daraus gemacht hat. Insbesondere die ausgeprägte Undifferenziertheit und Uninformiertheit, mit der aus einer hervorragenden Idee ein hohles Wirtschaftsgut gemacht wurde, stört mich dabei. Aber die Zeit lässt sich nun einmal nicht zurück drehen.

Dass im Wirtschaftssystem aus Ideen Produkte gemacht werden, stört mich nicht. Ich bin selbst überzeugter Systemiker (vgl. Niklas Luhman) und weiß, dass das letztlich so sein muss, weil es systemintelligent ist. Leider sind in diesem Fall aber sehr wirkungslose und teure Produkte herausgekommen. Teuer vor Allem für die Kunden.

Wirkungslosigkeit eingebaut

Das 2001 verfasste Manifest für agile Softwareentwicklung ist eine Zusammenstellung von Prinzipien, die man wieder in die Welt der Software-Produktentwicklung zurückholen wollte. Insofern waren das schon damals keine neuen Prinzipien.  In den folgenden Jahren wurden allerlei Modelle und Frameworks (oft aufbauend auf dem Scrum Framework von 1995) entwickelt und als Lösungen angepriesen.  Zum Einen verkennen diese Ansätze die Schwierigkeiten im Umgang mit Komplexität, wo Lösungsrezepte regelmäßig versagen, zum Anderen sind viele der angepriesenen Frameworks so angepasst an die heutige Konzernwelt (wie z.B. das Scaled Agile Framework), dass gerade nicht die Änderungen erzielt werden, die man eigentlich bräuchte. In weiteren Anpassungsschritten, die Unternehmen dann im Zuge der „Implementierung“ vornehmen, werden meist gleich mehrere der agilen Prinzipien des Manifests von 2001 verletzt. Die Wirkungslosigkeit wird mit eingebaut. Auch das ist übrigens systemintelligent aber ich will hier nicht zu theoretisch werden.

Unvollkommen

Als ich 2017 auf dem ScrumDay unterwegs war, habe ich mich sehr über viele gute Beiträge und spannende Diskussionen rund um das Thema agiles Arbeiten gefreut. Insbesondere freute ich mich, dass das Thema nun schon seit einiger Zeit aus der IT-Ecke heraustritt und z.B. im Kontext von Bildung oder behördlichen Institutionen an Bedeutung gewinnt.

Gleichwohl ist der Ansatz, auf Basis agiler Prinzipien ganze Unternehmen transformieren zu wollen aus meiner Sicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn das sogenannte „Agile Manifest“ wurde für die Softwareentwicklung verfasst. Es bezieht sich zudem auf die Arbeit in und mit einzelnen Teams,  beantwortet jedoch entscheidende Fragen nicht, die sich im Kontext ganzer Unternehmen stellen. Es ist zu unvollkommen dazu.

Stand heute müssen sich viele Unternehmen fragen, ob ihre Agile Transformation überhaupt Verbesserungen in der Wertschöpfung geschaffen haben. Ich befürchte, dass „Agile“, wie es heute in den meisten Unternehmen umgesetzt wird, eine Art Luxus ist, den man sich gerade leistet. Er fühlt sich ganz gut an aber im Kern läuft alles wie bisher. Wenn dann die nächste Rezession vor der Tür steht, wird man womöglich die Schlussfolgerung ziehen, dass man jetzt „wieder Ernst machen muss“. Man bestellt also die Löschfahrzeuge ab wenn es brennt.

Da ist eine teure Angelegenheit, denn Unternehmen beschäftigen über Jahre Berater und interne Coaches, die lediglich Symptome bearbeiten. Wenn es dann wirklich darauf ankommt, stellt man schmerzlich fest, dass das Unternehmen noch die gleichen Probleme hat wie vorher.

Also was jetzt?

Agilität ist eine Eigenschaft – das Wort „agil“ ist ein Adjektiv. Es beschreibt die Fähigkeit, auf Veränderungen reagieren zu können. Genau das ist es, was vielen Unternehmen heute fehlt und was als Problem verspürt wird. Langsame, teure Prozesse, fehlende Innovationskraft und immer das Gefühl, dass die Anderen es irgendwie besser machen.

Ich glaube tatsächlich, dass Unternehmen mehr Agilität (im Sinne der o.g. Eigenschaft) brauchen. Sie ist aber nicht mit Frameworks, einem halbherzig umgesetzten Manifest, oder gar Coaching am vermeintlich falschen „Mindset“ von Mitarbeitern zu erreichen (lesen Sie hier gerne mehr dazu). Vielmehr braucht es tiefgreifenden, organisatorischen Wandel nach einem vollständigen Satz an Prinzipien.

Appelle an die Belegschaft sind dabei aber das falsche Mittel. Wenn es funktionieren würde, den Mitarbeiter*innen einfach zu sagen, „seid doch ab morgen mal agil“, dann hätten sie es schon längst getan.  Menschen agieren immer systemintelligent. Das bedeutet, Unternehmen müssen ihr System aus Command-and-Control Strukturen, regelbasierten Prozessen und Anreizsystemen ändern, anstatt bei den Menschen die Fehler zu suchen.

Also, mehr Agilität und weniger „Agile“. Agilität muss immer in den Kontext der wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Unternehmens gesetzt werden und sich an den Erfolgen in diesem Kontext messen. Es darf keine Wohlfühlmaßnahme sein, die als Selbstzweck zu existieren versucht.  Wir sehen gerade, was dann passiert: Selbstzwecke werden wegen Nutzlosigkeit eliminiert. Let’s face it: Das Lifestyleprodukt „Agile“ ist tot. Es ist eine Art „Superfood“ geworden. Allzu oft verdienen nur Berater und die Kunden verschlucken sich.

Sprechen Sie mich gerne an, wenn Sie sich mit Unternehmensprinzipien für mehr Innovationskraft und Wertschöpfung ohne agilen Hype beschäftigen wollen – zum Kontaktformular!

Der Artikel wurde erstmals im Juli 2017 veröffentlicht und im August 2019 erweitert und überarbeitet.

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